Außer Kontrolle
Tomasz Konicz
30.04.2008
Die rechtsradikale Gewalt in Russland eskaliert
An Hitlers Geburtstag bleiben die 80 000 in Russland studierenden Ausländer in ihren streng bewachten Studentenwohnheimen kaserniert. Aus Angst vor seit Jahren zunehmenden, oftmals tödlich endenden Übergriffen russischer Nazis untersagen die Verwaltungen der Studentenwohnheime ihren Bewohnern mit südländischen Aussehen immer öfter, am 20. April ihre Unterkünfte überhaupt zu verlassen. So patrouillierten am 20. April vor einer Unterkunft für angehende Akademiker im Süden Moskaus speziell angeheuerte Wachleute, die nur Russen das Verlassen des Gebäudes erlauben durften – die Studenten aus Afrika, Zentralasien und dem Kaukasus hatten hingegen Ausgehverbot. Jedes Jahr kündigen die zahllosen, zumeist lose organisierten russischen Nazigruppen anlässlich des "Führergeburtstags" Angriffe auf Ausländer und Einwanderer an.
Alle Bilder: From Russia with Hate |
Alljährlich wird somit am 20. April die ganze
Schizophrenie der pathologisch anmutenden Ideologie russischer
Hitlerverehrer deutlich – war es doch die Sowjetunion, die unter
unermesslichen Opfern den größten Beitrag zum Sieg über Nazideutschalnd
leistete. Nur wenige Wochen nach diesen rechten Aktivitäten, die letztes
Jahr sogar in einer von den Moskauer Behörden genehmigten öffentlichen
Gedenkveranstaltung für Hitler gipfelten, finden am 8. Mai die
Feierlichkeiten anlässlich des Sieges über den Deutschen Faschismus
statt. Dennoch verfügt Russland inzwischen unbestritten über die größte und gewalttätigste rechte Szene Europas und Asiens (Video).
Auf dem Gebiet der russischen Föderation soll es
Schätzungen zufolge an die 300 rechtsradikale Gruppierungen geben, wobei
ein Großteil der gewaltbereiten Faschisten von den geschätzten 60 000
bis 70 000 Nazis-Skinheads gestellt wird. Zu den bekanntesten russischen
Naziorganisationen gehört die Nationalsozialistische Gesellschaft (NSO), die auch die letztjährigen öffentlichen Hitler-Kundgebung in Moskau organisierte und als Veranstalter paramilitärischer Trainingscamps für angehende Rechtsterroristen fungiert.
Eine Dachorganisation der radikalen Rechten Russlands bildet die Bewegung gegen illegale Immigration
(DPNI). 2002 in Reaktion auf zunehmende Auseinandersetzungen zwischen
Russen und kaukasischen Immigranten in den Moskauer Vororten von Nazis
gegründet, will die DPNI die weit verbreiteten Ressentiments gegen
Ausländer in der russischen Bevölkerungen kanalisieren und für ihre
radikal xenophoben Ziele instrumentalisieren. Der Gründer der DPNI,
Alerandr Below, ist übrigens ein früheres Mitglied der Nazipartei Payamat.
Die Bewegung gegen Illegale Immigration organisierte ursprünglich vor
allen Demonstrationen gegen die "Überfremdung" der russischen
Gesellschaft. Doch inzwischen bauen die Mannen rund um Below auch eine
Miliz auf, die "Selbstverteidigung des Volkes". Zudem gehört die DPNI zu
den wichtigsten Organisatoren der größten alljährlichen Zusammenrottung
russischer Nazis, des am 4. November abgehaltenen "Russischen Marsches"
(Russlands extreme Rechte marschiert).
"Regelrechter Krieg gegen Fremdlinge"
Die von diesen rechtsradikalen Strukturen legitimierte und größtenteils von lose organisierten Nazibanden praktizierte
(Video) Gewalt gegen Ausländer oder Andersdenkende nimmt alljährlich
immer dramatischere Ausmaße und Formen an, die zu einer Eskalation der
ethnisch motivierten Spannungen in Russland beitragen könnten. Dem
Moskauer Menschenrechtsbüro zufolge starben bei 86 rassistischen
Überfällen allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres 49 Menschen,
80 weitere wurden verletzt. Dies stellt eine Explosion rassistisch
motivierter Gewalt um 400 Prozent gegenüber dem gleichen
Vorjahreszeitraum dar.
Die Gewalt nimmt schon seit Jahren unaufhörlich zu: Laut dem Menschenrechtszentrum Sova
starben in gesamten Jahr 2007 76 Menschen bei faschistischen
Überfällen, in 2006 waren es 62 Tote. Im Zentrum der faschistischen
Übergriffe befinden sich Moskau und St. Petersburg, in denen laut der
russischen Nachrichtenagentur RIA-Novosti die Nazi-Skinheads einen
"regelrechten Krieg gegen Fremdlinge" führen. Die staatsnahe
Nachrichtenagentur gab einen Einblick in die ausufernde Gewaltwelle, die
Russlands Neonazis im Vorfeld des Geburtstags ihres "Führers" Adolf
Hitler buchstäblich lostreten:
In den letzten Tagen wurden in der Moskauer
Metro-Station Schtschukinskaja zwei Kaukasier geprügelt, zwei weitere
Einwanderer wurden in der Metro-Station Kiewskaja überfallen.
Einwanderer aus der Kaukasus-Teilrepublik Inguschetien wurden von
Skinheads im Moskauer Stadtteil Wychino überfallen. Einer von ihnen
wurden getötet. In der Perwomajskaja-Straße wurden drei Jugendliche aus
Aserbaidschan zusammengeschlagen. Im Moskauer Vorort Dserschinsk machten
die Skinheads zwei Usbeken zu Krüppel. In Sankt Petersburg wurden
mongolische Studentinnen und ein Afrikaner überfallen.
Besorgniserregend ist auch eine neue organisatorische
Qualität, die mit den Übergriffen einhergehen kann. Inzwischen finden
koordinierte Aktionen mehrerer Nazigruppen gegen Ausländer statt, die
oft zu richtiggehenden Massenschlägereien führen. Mitte 2007 zettelten
Mitglieder der DPNI und anderer Nazigruppen eine solche Auseinandersetzung
auf dem Slawjanskaja Platz im Zentrum Moskaus an, als eine Gruppe aus
dem Kaukasus stammender Immigranten von Dutzenden Skinheads angegriffen
wurde. Nach unterschiedlichen Schätzungen waren an den
Auseinandersetzungen zwischen 50 und 200 Menschen beteiligt. DPNI-Chef
Below rechtfertigte die Übergriffe in den Medien damit, dass die
"Kaukasier" sich "laut benahmen" und "tanzten", wodurch sich seine
Anhängerschaft "provoziert" gefühlt habe.
Inzwischen scheinen Russlands Immigranten diese
Übergriffe nicht tatenlos hinnehmen zu wollen und sich zu organisieren
beginnen. Ria-Novosti berichtet
von Angriffen armenischer, aserbaidschanischer und dagestanischer
Auswanderer auf "einen Moskauer Klub, der als Treffpunkt für
Nationalisten" gelte. Gegenüber dem Wall Street Journal erklärte
der Sprecher der aserbaidschanischen Diaspora, Sojun Sadykow, dass
viele Immigranten sich nach Vergeltung sehnen würden: "Wenn es so
weitergeht für ein oder zwei Monate, dann wird es einen Bürgerkrieg
geben."
Ausländerfeindliche Ressentiments weit verbeitet
Tatsächlich birgt dieser neue russische Rassismus eine
ungeheure Sprengkraft in sich, ist doch Russland seit Jahrhunderten ein
multikonfessioneller und multiethnischer Staat. Eine starke muslimische
Minderheit existiert beispielsweise in dem russischen Reich seit der
Mitte des 16. Jahrhunderts, als Ivan der Schreckliche die Khanate von
Kasan und Astrachan eroberte. Die orthodoxe Kirche galt während der
Zarenzeit gegenüber religiösen Minderheiten als besonders tolerant, eine
erzwungene Bekehrung fand nicht statt. Laut der letzten Volkszählung
bezeichnen sich auf dem Territorium der russischen Föderation 30
Millionen Menschen nicht als ethnische Russen, bei einer
Gesamtbevölkerung von 142 Millionen. Die Herstellung eines "ethnisch
reinen" Großrussland, die den russischen Faschisten vorschwebt, ist
somit und nur um den Preis des Zerfalls der Russischen Föderation
realisierbar.
Die Stiefelfaschisten können auf weit verbreiteten
xenophoben Ressentiments in der russischen Bevölkerung aufbauen. Laut
neusten Umfragen
sind nur 37 Prozent der Russen der Meinung, dass es "sehr wichtig" sei,
Menschen unterschiedlicher Abstammung gleich behandelt würden. Zugleich
stieg einer Befragung des Lewada-Zentrums zufolge der Anteil der
Bürger der russischen Föderation, die der Parole "Russland den Russen"
zustimmen, in den letzten Jahren von 46 Prozent auf 56 Prozent. Ein
gutes Drittel der Umfrageteilnehmer gab überdies an, dass Vertreter der
"nichtrussischen Nationalitäten an allen Nöten unseres Landes schuld"
seien. Eine von der Stiftung "Öffentliche Meinung" durchgeführte Umfrage
ergab zudem, dass gut ein Viertel der daran Beteiligten "Gereiztheit
und Feindseligkeit gegenüber diesen oder anderen Völkern" empfindet.
Weitere Umfrageergebnisse sind nicht minder alarmierend:
Laut Studien des Analytischen Lewada-Zentrums
sehen nur fünf Prozent der Russen den politischen Extremismus als eine
ernsthafte Bedrohung an. Zugleich sind etwa 15 Prozent der Jugendliche
davon überzeugt, dass der Faschismus als Weltanschauungssystem sogar
eine positive Seite hat, wie Umfragen des Meinungsforschungsinstituts
"Obschtschestwennoje Mnenije" zeigen. Ein Drittel der befragten
Studierenden einer Moskauer Hochschule glaubt, es wäre nicht so schlimm
gewesen, wenn Hitler-Deutschland die Sowjetunion besiegt hätte. Etwa
zehn Prozent äußerten, das Leben in Russland wäre in dem Fall vielleicht
besser geworden.
Doch es sind nicht nur Ausländer, die Zielscheibe des
von der Bevölkerung größtenteils mit Gleichgültigkeit hingenommenen,
faschistischen Terrors werden. Am 16. März wurde der russische
Antifaschist Aleksej Krylov
während eines Nazi-Überfalls getötet. Ein Dutzend Skinheads überfiel
die Gruppe von fünf Männern und einer Frau, die sich auf dem Weg zu
einem Punk-Konzert befand. Krylov verstarb noch am Tatort aufgrund
zahlreicher erlittener Messerstiche. Dieser brutale Angriff, der von
rechtsradikalen Anhängern von "Spartak Moskau" auf deren Internetforum
angekündigt und geplant wurde, führte zu etlichen Protestdemonstrationen (Video) und Kundgebungen, die unter anderem in Moskau und St. Petersburg stattfanden.
Präsident Wladimir Putin, dessen älterer Bruder bei der
Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht ums Leben kam, verurteilte bei
mehreren Anlässen den in Russland erstarkenden Neofaschismus. Überdies
ist es dem Kreml tatsächlich gelungen, die organisierten rechtsradikalen
Parteien zu marginalisieren und deren Anführer unter strikter Kontrolle
zu halten. Doch die Reaktion der russischen Behörden auf diese und
ähnliche faschistische Übergriffe wird von Kritikern oftmals als
zögerlich und verharmlosend gebrandmarkt. Nach Wladimir Pronin, dem
Chef der Moskauer Polizei, gebe es in der russische Hauptstadt überhaupt
keine eine organisierte Skinhead-Bewegung, wobei es sich bei den
massenhaften Übergriffen auf Ausländer um lauter "Einzelerscheinungen" handeln soll.
Einen Justizskandal löste der Mord an einem neunjährigen
tadschikischen Mädchen aus, das im Februar 2004 in St. Petersburg von
einer Bande Skinheads getötet wurde. Die Mörder wurden gefasst und
lediglich wegen "Rowdytums" zu gerade mal fünf Jahren Zuchthaus
verurteilt. Allgemein soll laut Sova die Strafverfolgung Rassistischer
Gewalt in 2007 einen "beträchtlichen Rückgang"
erfahren haben. Nur 24 Anklagen endeten mit einer Verurteilung der
Beschuldigten, in 2006 gab es zumindest noch 33 Verurteilungen. Dabei
zählte Sova im vergangenen Jahr 653 Opfer rechter Gewalt, inklusive der
besagten 76 Toten.
Dennoch scheint angesichts der rasanten Zunahme rechter
Gewalt die russische Staatsmacht zumindest punktuell in Aktion zu
treten. So wurden im vergangenen Jahr in Moskau vier Nazibanden zerschlagen, zudem geht nun die Miliz dazu über, in der Moskauer Metro Skinheads aufzugreifen und deren Fingerabdrücke zu nehmen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen