Im Jahr 1973 wurde er zum »Provinzial« des Jesuitenordens (»
Societas Jesu«
– »Gesellschaft Jesu«) in Argentinien ernannt. In dieser Eigenschaft
war Bergoglio unter der Militärdiktatur General Jorge Videlas (1976 -
81) der ranghöchste Jesuit in Argentinien. Später wurde er zum
Bischof und anschließend zum Erzbischof der Hauptstadt Buenos Aires
berufen. Papst Johannes Paul II. verlieh ihm 2001 die Kardinalswürde.
Als die Militärjunta 1983 die Macht verlor, setzte der demokratisch
gewählte Präsident Raúl Alfonsín eine Wahrheitskommission ein, die die
Verbrechen der Zeit der Diktatur, die in der Bevölkerung der »schmutzige
Krieg« (»La Guerra Sucia«) genannt wird, untersuchen sollte.
Die Militärjunta war verdeckt von Washington unterstützt worden. Der
damalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger spielte beim
Militärputsch von 1976 hinter den Kulissen eine wichtige Rolle.
»Kissingers Stellvertreter und wichtigster Lateinamerikaexperte
William Rogers berichtete ihm zwei Tage nach dem Putsch: ›Wir müssen mit
erheblichen Unterdrückungsmaßnahmen rechnen, vermutlich wird in
Argentinien in nicht allzu langer Zeit viel Blut fließen…‹« (National Security Archive, 23. März 2006)
»Operation Condor«
Am 5. März dieses Jahres, ironischerweise nur etwas mehr als eine
Woche vor der Wahl Bergoglios zum neuen Papst, begann in Buenos Aires
ein wichtiger und großangelegter Gerichtsprozess.
Bei diesem Verfahren geht es darum, »die Gesamtheit der Verbrechen
aufzuklären, die im Rahmen der Operation Condor, einer von den
verschiedenen, von den USA unterstützten lateinamerikanischen Diktaturen
in den 1970er und 1980er Jahren
gemeinschaftlich
organisierten Operationen, begangen wurden. Im Rahmen dieser
koordinierten Kampagne wurden Zehntausende von Gegnern dieser Regime
gejagt, gefoltert und ermordet«. (Für weitere Informationen siehe auch:
Carlos Osorio und Peter Kornbluh, »
Operation Condor: Trial On Latin American Rendition And Assassination Program«, in:
Global Research, 10. März 2013.)
Die Militärjunta unter Führung von General Jorge Videla ist für
zahllose Morde, auch an Priestern und Nonnen, die sich dem Regime
widersetzten, verantwortlich. Das Militär hatte mit Unterstützung der
CIA am 24. März 1976 die Regierung von Isabel Perón gestürzt und sich so an die Macht geputscht:
»Videla gehörte zu den Generälen, die wegen
Menschenrechtsverbrechen wie ›dem Verschwindenlassen‹ von Personen,
sowie wegen Folter, Morden und Entführungen verurteilt wurden. 1985
wurde Videla zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, die er im
Militärgefängnis von Magdalena absitzt.«
Die Wall Street und die neoliberale Wirtschaftsideologie
Zum Wirtschaftsminister der Militärjunta wurde (auf Geheiß der Wall Street)
José Alfredo Martínez de Hoz ernannt,
der dem Wirtschaftsestablishment Argentiniens angehörte und eng mit
David Rockefeller befreundet war. Die neoliberale makroökonomische
Politik, die unter Martínez de Hoz eingeführt wurde, unterschied sich
kaum von der Politik, die im Oktober 1973 in Chile unter der Diktatur
General Pinochets auf Anraten der so genannten »Chicago Boys«
i
durchgesetzt wurde. Pinochet hatte am 11. September die demokratisch
gewählte Regierung unter Salvador Allende, der bei dem Putsch ermordet
wurde, gestürzt.
Als erstes wurden umgehend per Dekret die Löhne eingefroren. Die
reale Kaufkraft brach in den auf den Putsch vom 24. März folgenden
Monaten um mehr als 30 Prozent ein (Berechnungen des Verfassers,
Córdoba, Argentinien, Juli 1976). Die argentinische Bevölkerung
verarmte.
Unter Wirtschaftsminister José Alfredo Martínez de Hoz wurde die
Geldpolitik der argentinischen Zentralbank im Wesentlichen von der Wall
Street und dem Internationalen Währungsfonds (IWF)
geprägt.
Die Devisenmärkte wurden manipuliert. Der Peso wurde bewusst
überbewertet, was die Auslandsverschuldung exorbitant ansteigen ließ.
Die gesamte Volkswirtschaft befand sich auf dem Weg in den Bankrott.
Die Wall Street und die katholische Kirchenführung
Die Wall Street stand fest hinter der Militärjunta, die in deren
Interesse einen »schmutzigen Krieg« führte. Im Gegenzug spielte die
Führungshierarchie der katholischen Kirche eine entscheidende Rolle bei
der Legitimierung der Herrschaft der Militärjunta.
Die Gesellschaft Jesu
– die den konservativsten, aber auch
einflussreichsten Flügel innerhalb der katholischen Kirche, die eng mit
der argentinischen Wirtschaftselite verbunden war, repräsentierte –
unterstützte die Militärjunta gegen die so genannten »Linken« in der
perónistischen Bewegung.
Der »schmutzige Krieg« – Vorwürfe gegen Kardinal Jorge Mario Bergoglio
Kritik an der Militärdiktatur (einschließlich der von ihr begangenen
Menschenrechtsverletzungen) war in der katholischen Kirche ein Tabu.
Aber während die Führungsriege der Kirche das Militärregime
unterstützte, lehnte die Basis der Kirche die Einführung der
Militärherrschaft eindeutig ab.
2005 reichte die Menschenrechtsanwältin Myriam Bregman Klage gegen
Kardinal Jorge Bergoglio ein. Sie warf ihm vor, mit der Militärjunta
1976 im Zusammenhang mit der Entführung zweier Jesuitenpater
zusammengearbeitet zu haben. Einige Jahre später warfen Überlebende des
»schmutzigen Krieges« Kardinal Bergoglio ebenfalls vor, an der
Entführung der Pater Francisco Jálics und des inzwischen verstorbenen
Orlando Yorio sowie sechs weiterer Gemeindemitglieder beteiligt gewesen
zu sein (siehe dazu:
El Mundo, 8. November 2010).
Bergoglio, der damals Provinzial, also Leiter, der Jesuitenprovinz in
Argentinien war, hatte angeordnet, die beiden »linken« Jesuitenpater
und Gegner des Militärregimes sollten »ihre
pastorale
Tätigkeit aufgeben« (d.h. sie wurden sozusagen »gefeuert«). Daraufhin
kam es zu erheblichen Spannungen unter den Jesuiten hinsichtlich der
Rolle der katholischen Kirche und ihrer Beziehung zur Militärjunta.
Während die beiden Pater Francisco Jálics und Orlando Yorio, die im
Mai 1976 von den Todesschwadronen verschleppt worden waren, nach fünf
Monaten und etlichen Folterungen wieder freigelassen wurden, blieben die
anderen sechs Gemeindemitglieder, die mit ihnen zusammen entführt
wurden, »verschwunden« (»desaparecidos«); zu ihnen gehörten vier
Lehrerinnen, die mit der Gemeinde verbunden waren, und zwei ihrer
Ehemänner.
Nach seiner Freilassung warf Pater Orlando Yorio »
Bergoglio vor, sie und die sechs anderen Personen praktisch den Todesschwadronen ausgeliefert zu haben…
Jálics weigerte sich, über die Vorwürfe zu diskutieren, nachdem er sich
in die Abgeschlossenheit eines deutschen Klosters zurückgezogen hatte«.
(
Associated Press, 13. März 2013, Hervorhebungen vom Verfasser.)
»Während des ersten Gerichtsverfahrens gegen führende Vertreter der
Militärjunta 1985 erklärte Yorio: ›Ich bin mir sicher, dass er selbst
der Marine die Liste mit unseren Namen aushändigte.‹ Die beiden Pater
wurden in das berüchtigte Folterzentrum in der Marineschule für Technik (
Escuela de Mecánica de la Armada,
ESMA)
gebracht und dort mehr als fünf Monate festgehalten. Dann wurden sie
unter Drogen gesetzt und in einer Vorstadt ausgesetzt.« (Bill van
Aucken, »›The Dirty War‹ Pope«, in:
World Socialist Website und
Global Research, 14. März 2013.)
Zu den von den Todesschwadronen Verschleppten gehörten auch Mónica
Candelaria Mignone, Tochter von Emilio Mignone, des Gründers des
Centro de Estudios Legales y Sociales (
CELS),
und María Marta Vázquez Ocampo, Tochter der Vorsitzenden der Bewegung
Madres de Plaza de Mayo (»Mütter des Platzes der Mairevolution«), Marta Ocampo de Vázquez (
El Periodista Online, März 2013).
María Marta Vázquez, ihr Ehemann César Lugones und Mónica Candelaria
Mignone, die »den Todesschwadronen« angeblich durch den
Jesuitenprovinzial Jorge Mario Bergoglio »übergeben« wurden, gehören zu
den Tausenden der »Verschwundenen« in diesem »schmutzigen Krieg«, der
insgeheim von Washington im Rahmen der »Operation Condor« unterstützt
wurde (siehe dazu:
memorialmagro.com.ar).
Im Zusammenhang mit dem 2005 eröffneten Verfahren berichtete die
Los Angeles Times:
»Bergoglio [der heutige Papst Franziskus] nahm zweimal das nach
argentinischem Gesetz zulässige Recht in Anspruch, nicht vor Gericht
erscheinen zu müssen. Als er dann 2010 endlich aussagte, antwortete er
ausweichend. Zumindest in zwei Verfahren war Bergoglio direkt beteiligt.
Das eine untersuchte die Folterungen an zweien seiner Jesuitenpater –
Orlando Yorio und Francisco Jálics –, die 1976 aus den Slums entführt
wurden, wo sie sich für die Befreiungstheologie eingesetzt hatten. Yorio
warf Bergoglio vor, sie praktisch den Todesschwadronen ausgeliefert zu
haben…, indem er sich weigerte, dem Regime gegenüber zu erklären, er
unterstütze ihre Arbeit. Jálics wollte keine Stellungnahme abgeben,
nachdem er sich in die Abgeschiedenheit eines deutschen Klosters
zurückgezogen hatte.« (Los Angeles Times, 1. April 2005)
Das geheime Memorandumii
In einem geheimen Memorandum räumte die Militärregierung ein, dass
Pater Bergoglio den beiden Patern vorgeworfen habe, Kontakte zu den
Guerillas
aufgenommen und damit gegen Anweisungen der Ordensoberen verstoßen zu
haben (»Conflicto de obediencia«). In der Denkschrift heißt es auch, der
Jesuitenorden habe die Auflösung ihrer Gruppe angeordnet, aber die
beiden hätten sich geweigert, den Befehlen Bergoglios zu folgen. In dem
Schriftstück wird erklärt, die »Verhaftung« der beiden Pater, die in das
Folter- und Internierungszentrum in der Marineschule für Technik
gebracht wurden, gehe auf Informationen zurück, die von Pater
Bergoglio an die Militärbehörden weitergegeben worden seien. Das Memorandum trägt die Unterschrift »Orcoyen«.
Offenbar hatte sich zwar ein früheres Mitglied der Priestergruppe den
Aufständischen angeschlossen, aber es gab keinerlei Beweise dafür, dass
die Pater selbst über Kontakte zur Guerilla-Bewegung verfügten.
»Abendmahl für die Diktatoren«
Die gegen Bergoglio im Zusammenhang mit der Verschleppung der beiden
Jesuitenpater und der sechs Gemeindemitglieder erhobenen Vorwürfe bilden
nur die Spitze des Eisbergs. Bergoglio war sicherlich ein bedeutender
Repräsentant der katholischen Kirche, stand aber mit seiner
Unterstützung der Militärjunta keineswegs allein.
Die schon erwähnte Menschenrechtsanwältin Myriam Bregman berichtete: »Bergoglios eigene Aussagen belegen, dass
Vertreter der Amtskirche von Anfang an wussten, dass die Junta ihre Mitbürger folterte und ermordete, und dennoch die Diktatoren öffentlich unterstützten. Die Diktatur hätte nicht in dieser Weise ohne diese wichtige Unterstützung vorgehen können.« (
Los Angeles Times, 1. April 2005, Hervorhebungen vom Verfasser.)
Die gesamte Kirchenführung Argentiniens stellte sich hinter die von
den USA unterstützte Militärdiktatur. Man sollte daran erinnern, dass am
Vorabend des Militärputsches am 23. März 1976 »
Videla und andere Mitputschisten den Segen des Erzbischofs von Paraná, Adolfo Tortolo, erhielten,
der zugleich Vikar der Streitkräfte war. Am Tag des Putsches selbst
traf die Militärführung zu einem längeren Gespräch mit führenden
Vertretern der Bischofskonferenz zusammen. Als Erzbischof Tortolo das
Treffen verließ, erklärte er, die Kirche verfolge zwar eine eigene
Mission, aber es gebe Umstände, unter denen sie sich einer Beteiligung
nicht entziehen könne, selbst wenn es um Probleme gehe, die mit der
besonderen Lage des Staates zusammenhingen.
Er forderte die Argentinier auf, mit der neuen Regierung ›positiv zusammenzuarbeiten‹«. (
The Humanist.org, Januar 2011, Hervorhebungen vom Verfasser.)
In einem Interview, das
El Sur mit General Jorge Videla, der
derzeit eine lebenslängliche Gefängnisstrafe für Verbrechen gegen die
Menschlichkeit absitzt, führte, heißt es: »[Videla bestätigte, dass]
er die Führung der katholischen Kirche des Landes über die Politik seines Regimes, politische Gegner ›verschwinden zu lassen‹, informierte und der
katholischen Führung anbot, ihn dahingehend zu beraten, wie diese Politik ›umzusetzen‹ sei.
Jorge Videla erklärte, er habe ›viele Gespräche‹ mit dem Primas der
katholischen Kirche in Argentinien, Kardinal Raúl Francisco Primatesta,
über den ›schmutzigen Krieg‹ seines Regimes gegen linke Aktivisten
geführt. Weiter sagte er, es hätten auch Gespräche mit anderen führenden
Bischöfen der argentinischen Bischofskonferenz sowie mit dem damaligen
päpstlichen Nuntius Pio Laghi stattgefunden. ›
Sie berieten uns, wie wir mit der Situation umgehen sollten‹, sagte Videla.« (Tom Hennigan, »
Former Argentinian dictator says he told Catholic Church of disappeared«, in:
Irish Times, 24. Juli 2012, Hervorhebungen vom Verfasser.)
Bemerkenswert ist ebenfalls, dass das Militär, wie aus einer
Stellungnahme von Erzbischof Adolfo Tortolo aus dem Jahr 1976
hervorgeht, im Falle der »Verhaftung« eines für die sozialen Belange
seiner Gemeinde eintretenden und kritischen Vertreters des Klerus immer
das Gespräch mit einem Vertreter der Kirchenführung suchte. »Diese
Erklärung Tortolos erfolgte ausdrücklich im Zusammenhang mit den beiden
verschleppten Jesuitenpatern, deren pastorale Tätigkeit der Aufsicht des
zuständigen »Provinzials« des Ordens Jorge Mario Bergoglio unterstand.«
(
El Periodista Online, März 2013.)
Mit ihrer Unterstützung der Militärjunta trägt die katholische
Kirchenführung eine Mitschuld an den Folterungen und Morden.
Schätzungsweise »beträgt die Gesamtzahl der zwischen 1976 und 1978
Getöteten und Verschleppten 22.000 Menschen… 1.000 weitere Personen
wurden zwischen 1978 und 1983 getötet, bevor das Militär dann von der
Macht vertrieben wurde«. (
National Security Archive, 23. März 2006.)
Die Rolle des Vatikans
Unter den Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. spielte der Vatikan
eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung der argentinischen
Militärjunta. Pio Laghi, der päpstliche Nuntius in Argentinien, räumte
ein, man habe über die Folterungen und Massaker hinweggesehen. Laghi
unterhielt persönliche Beziehungen zur herrschenden Militärjunta, darunter auch zu General Jorge Videla und
Admiral Emilio Eduardo Massera.
In enger Abstimmung mit seinen amerikanischen »Chefs« war letzterer
der geistige Kopf hinter dem »Guerra Sucia«. Auf Anweisung des
Militärregimes errichtete er in der näheren Umgebung der Hauptstadt
Buenos Aires »ein Verhör- und Folterzentrum in der Marineschule für
Technik (
ESMA) … Es handelte sich um eine hochmoderne Vielzweckeinrichtung, die
bei den Planungen der Militärs, schätzungsweise 30.000 ›Staatsfeinde‹ zu ermorden, eine wichtige Rolle spielte … Viele Tausende der
ESMA-Insassen, darunter z. B. zwei französische Nonnen,
wurden
routinemäßig gnadenlos gefoltert, bevor sie dann direkt ermordet oder
über dem Rio de la Plata aus dem Flugzeug geworfen wurden.
Massera war das einflussreichste Mitglied des Triumvirats und
unternahm sein Bestes, seine Verbindungen nach Washington aufrecht zu erhalten. Er war an der Entwicklung des Plan Cóndor
beteiligt, in dessen Rahmen das gemeinsame terroristische Vorgehen der
verschiedenen südamerikanischen Militärregime abgestimmt wurde«. (Hugh O’Shaughnessy, »
Admiral
Emilio Massera: Naval officer who took part in the 1976 coup in
Argentina and was later jailed for his part in the junta’s crimes«, in:
The Independent,
10. November 2010, Hervorhebungen vom Verfasser.) Andere Berichte
bestätigen, dass der Vertreter des Vatikans Pio Laghi und Admiral Emilio
Massera gute Freunde waren.
Die katholische Kirche – Chile vs. Argentinien
Es sollte darauf hingewiesen werden, dass der Kardinal von Santiago
de Chile, Raúl Silva Henríquez, nach dem Militärputsch vom 11. September
1973 die Militärjunta unter Führung von General Augusto Pinochet
öffentlich verurteilte. Diese Haltung der katholischen Kirchenführung in
Chile steht in krassem Gegensatz zu Argentinien und trug wesentlich
dazu bei, die Welle der politischen Morde und Menschenrechtsverletzungen
gegenüber Unterstützern Salvador Allendes und Gegnern des
Militärregimes abebben zu lassen.
»Hinter dem überkonfessionellen
Comité Pro Paz stand vor
allem Kardinal Raúl Silva Henríquez. Kurz nach dem Putsch übernahm …
Silva die Rolle des für seinen Nächsten ›Eintretenden‹.
Diesen
Begriff prägte die Autorin und Aktivistin Samantha Power, um diese
Menschen, die – oft unter erheblichen persönlichen Gefahren – gegen
Ungerechtigkeiten aufbegehren, von Personen abzugrenzen, die sich als
›unbeteiligte Zuschauer‹ sehen…
Bald nach dem Putsch veröffentlichten Silva und andere Kirchenführer
eine Erklärung, in der sie das Blutbad verurteilten und ihre Trauer
gegenüber den Opfern und Angehörigen zum Ausdruck brachten. Für viele
Angehörige des chilenischen Klerus bedeutete dies einen grundlegenden
Wendepunkt… Der Kardinal besuchte das Nationalstadion, das nach dem
Putsch von Pinochet als Internierungslager für politische Gefangene
benutzt wurde, und beauftragte danach, schockiert durch das Ausmaß des
gewaltsamen Vorgehens der Regierung, seine Mitarbeiter, Informationen
von den Tausenden von Menschen zu sammeln, die in den Kirchen Zuflucht
suchten. Silvas Vorgehen führte zu einem offenen Konflikt mit Pinochet,
der sich nicht scheute, die Kirche und das
Comité Pro Paz zu bedrohen.« (
Taking a Stand Against Pinochet: The Catholic Church and the Disappeared).
Nach Auffassung Samantha Powers handelte es sich bei Jorge Mario
Bergoglio nicht um einen »unbeteiligten Zuschauer«. Er trägt Mitschuld
für schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Ebenso wenig ist Papst Franziskus ein »Mann des Volkes«, der
entschlossen sei, den »Armen« nach dem Vorbild des Heiligen Franziskus
von Assisi »beizustehen«, wie es in den westlichen Medien
gebetsmühlenartig kolportiert wird. Seine Bemühungen richteten sich in
der Zeit der Militärjunta im Gegenteil wiederholt gerade gegen
progressive Mitglieder der katholischen Geistlichkeit sowie gegen
überzeugte Menschenrechtsaktivisten, die sich an bürgernahen Programmen
zur Armutsbekämpfung beteiligten.
Mit seiner Unterstützung des »schmutzigen Krieges« in Argentinien hat
Jorge Mario Bergoglio gegen die Grundlehren der christlichen Moral
verstoßen, die den Wert des menschlichen Lebens hochhalten. Die
Botschaft des Verfassers an Papst Franziskus lautet: »Du sollst nicht
töten.«
»Operation Condor« und die katholische Kirche
Die Wahl Kardinal Bergoglios zum Papst durch das Konklave im Vatikan
wird sich umgehend auf die laufenden Gerichtsverfahren im Zusammenhang
mit Operation Condor auswirken. Die Kirche war an der Unterstützung der
Militärjunta beteiligt. Dies wird im Verlauf des Verfahrens
ans
Licht kommen. Ohne Zweifel wird versucht werden, die Rolle der
katholischen Kirchenführung und des neugewählten Papstes Franziskus, der
während der Zeit der Militärdiktatur Chef des argentinischen
Jesuitenordens war, herunterzuspielen.
Jorge Mario Bergoglio: »Washingtons Papst im Vatikan«?
Die Wahl von Papst Franziskus hat weitreichende geopolitische
Auswirkungen für Lateinamerika insgesamt. In den 1970er Jahren
unterstützte Jorge Mario Bergoglio eine von den USA geförderte
Militärdiktatur. Die katholische Kirchenführung Argentiniens
unterstützte die Militärregierung. Die Folterprogramme, die Ermordungen
und das »Verschwindenlassen« von Tausenden politischer Gegner wurden mit
Washington im Rahmen der von der
CIA gelenkten Operation Condor
abgestimmt
und befürwortet. Die wirtschaftlichen Interessen der Wall Street wurden
durch Wirtschaftsminister José Alfredo Martínez de Hoz und seine
Mitarbeiter geschützt.
Die katholische Kirche in Lateinamerika besitzt erheblichen
politischen Einfluss und ein großes Gewicht in der öffentlichen Meinung.
Dies ist allgemein bekannt und wird von den Drahtziehern der
amerikanischen Außenpolitik und in den amerikanischen Geheimdiensten
benutzt.
Gegenwärtig stellen einige lateinamerikanische Regierungen die
amerikanische Vorherrschaft in Frage. Ist nun damit zu rechnen, dass
angesichts der Vergangenheit Bergoglios der neue Papst Franziskus als
oberster katholischer Kirchenführer nun sozusagen »verdeckt« die
politischen Interessen der USA vertritt?
Mit Jorge Bergoglio – nun Papst Franziskus –, der sich in der
Glanzzeit General Jorge Videlas und Admiral Emilio Masseras getreulich
für amerikanische Interessen stark machte, könnte die Führung der
katholischen Kirche in Lateinamerika wieder einmal dazu manipuliert
werden, »progressive« (also eher linksgerichtete) Regierungen nicht nur
in Argentinien (was etwa die Regierung unter Cristina Fernández de
Kirchner betrifft), sondern in der ganzen Region (einschließlich
Venezuelas, Ekuadors und Boliviens) zu schwächen.
Die Einsetzung eines »proamerikanischen« Papstes erfolgte eine Woche nach dem Tod von Präsident Hugo Chávez in Venezuela.
»Regimewechsel« im Vatikan
Das amerikanische Außenministerium übt schon routinemäßig Druck auf Mitglieder des
UN-Sicherheitsrats
auf, um Abstimmungen über Resolutionen des Sicherheitsrats zu
beeinflussen. Verdeckte amerikanische Operationen und
Propagandakampagnen werden schon gewohnheitsmäßig eingesetzt, um auf den
Ausgang von Parlamentswahlen in verschiedensten
Ländern der Welt Einfluss zu nehmen. Die
CIA unterhält seit Langem verdeckte Beziehungen zum Vatikan.
Hat die amerikanische Regierung versucht, das Ergebnis der jüngsten
Papstwahl zu beeinflussen? Aufgrund seiner bereitwilligen Unterstützung
der außenpolitischen Interessen der USA in Lateinamerika war Jorge Mario
Bergoglio Washingtons Wunschkandidat.
Hat Washington insgeheim indirekten oder direkten Druck auf die 115
Kardinäle der katholischen Kirche ausgeübt, die das Konklave bildeten?
Sehen Sie dazu auch das Interview, das
Michel Chossudovsky in englischer Sprache mit Bonnie Faulkner zum Thema »Wer ist Papst Franziskus wirklich?« führte.
Nachbemerkung des Verfassers
Zur Zeit der Machtergreifung des Militärregimes 1976 war ich
Gastprofessor am Institut für sozialpolitische Studien an der
Universidad Nacional de Córdoba in Argentinien. Damals konzentrierte
sich meine Forschungsarbeit auf die Untersuchung der sozialen
Auswirkungen der verheerenden makroökonomischen Reformen, die von der
Militärjunta durchgesetzt worden waren.
Während der ersten Welle der Morde, die sich auch gegen progressive
Mitarbeiter der Basisbewegung des katholischen Klerus richtete, lehrte
ich an der Universität von Córdoba. Die Industriestadt Córdoba im Norden
Argentiniens bildete das Zentrum der Widerstandsbewegung. Ich war
Zeuge, wie die katholische Kirchenführung aktiv und wiederholt die
Militärjunta unterstützte und eine Atmosphäre der Einschüchterung und
Angst im ganzen Land schürte. Damals war der Eindruck weit verbreitet,
dass die argentinische Bevölkerung von den oberen Etagen der
katholischen Kirche betrogen und verraten worden sei.
Drei Jahre zuvor war ich Gastprofessor am Institut für
Wirtschaftswissenschaft der katholischen Universität von Chile in der
Hauptstadt Santiago gewesen und musste miterleben, wie am 11.
September die Regierung der Unidad Popular unter Salvador Allende durch einen Militärputsch gestürzt wurde.
In den unmittelbar auf den Putsch folgenden Wochen konnte ich
miterleben, wie sich der Kardinal von Santiago, Raúl Silva Henriquez, im
Namen der katholischen Kirche gegen die Militärdiktatur wandte.
Fußnoten:
i
Bei den »Chicago Boys« handelt es sich um chilenische
Wirtschaftswissenschaftler wie etwa José Piñera, Álvaro Bardón und
Sergio de Castro, die stark von der neoliberalen und extrem
marktorientierten Auffassung Milton Friedmans und von Hayeks geprägt
und zum größten Teil an der Universität von Chicago ausgebildet worden
waren.
ii Dieser Teil wurde am 19. März 2013 ergänzt.
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