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Mittwoch, 22. Oktober 2014

"Russlands „schweigende Mehrheit“ und ihre Metamorphosen – eine historische Betrachtung"

Volkszorn

Russlands „schweigende Mehrheit“ und ihre Metamorphosen – eine historische Betrachtung.
Die Tatsache, dass Wladimir Putin trotz seiner aggressiven Ukraine-Politik, die Russland international weitgehend isoliert hat, eine beispiellose Popularität im Lande genießt, macht viele russische Intellektuelle ratlos. Der vor Kurzem verstorbene Soziologe Boris Dubin sagte im August dazu Folgendes: Eine derartige Solidarisierung der amorphen Mehrheiten mit der Staatsführung habe das Land wohl nie gekannt. Nicht zuletzt deshalb sei die Kreml-Führung imstande gewesen, nicht nur die russische Gesellschaft, sondern auch die ganze Welt innerhalb von drei, vier Wochen auf den Kopf zu stellen.
Das einfache russische Volk, das von der Intelligenzija des Landes als eine „Schatztruhe“ der Nation verklärt worden sei, habe nun sein wahres Wesen offenbart, fügt der Moskauer Schriftsteller Viktor Jerofejew in der „FAZ“ vom 2. Oktober hinzu. Diese Schatztruhe habe sich als Sarg voller Fäulnis erwiesen: „2014 wurde der Sarg geöffnet. Der Geruch verschlug den Atem.“
Auch während der Gorbatschow’schen Perestroika blieb die Skepsis
Jerofejew lässt bei seiner Diagnose allerdings Folgendes außer Acht. Die Mehrheit der russischen Intellektuellen wandte sich von den einfachen Volksschichten nicht erst infolge der Ereignisse von 2014, sondern schon viel früher enttäuscht ab. Bereits im Jahre 1917 fand innerhalb der russischen Bildungsschicht ein Paradigmenwechsel statt. Die von der Intelligenzija seit Generationen verklärte Revolution führte damals zu einem Aufstand des Volkes gegen die verhasste europäisierte Bildungsschicht, zur Zerstörung der dünnen und brüchigen zivilisatorischen Hülle des Petersburger Russlands. Nun sah die Mehrheit der Intellektuellen in dem bis dahin so bewunderten einfachen Volk eine Bedrohung für die russische Kultur. Dieses Trauma von 1917 prägte auch das Denken des intellektuellen Kerns der in den 1960er-Jahren entstandenen Bürgerrechtsbewegung. Deshalb war sie zunächst auch nicht in der Lage, aus dem intellektuellen Ghetto auszubrechen und eine schichtenübergreifende oppositionelle Bewegung ins Leben zu rufen, wie dies z. B. die polnischen Dissidenten nach der Gründung des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter im Jahre 1976 taten.
Andrej Amalrik, der zu den Gründern der Bürgerrechtsbewegung zählte, schrieb, dass die regimekritischen Intellektuellen, anders als die vorrevolutionäre Intelligenzija, keine Schuldgefühle gegenüber dem einfachen Volk hätten. Im Gegenteil: An die Stelle dieses Schuldkomplexes sei eine eigenartige Überzeugung von der Schuld des Volkes gegenüber der Intelligenzija getreten.
Auch während der Gorbatschow’schen Perestroika blieb die Skepsis der demokratisch gesinnten Intellektuellen gegenüber den breiten Bevölkerungsschichten bestehen. Sie betonten immer wieder, dass es nichts Schlimmeres gebe als den elementaren Aufruhr der verzweifelten Massen. Man hatte den Eindruck, dass sie die Gewalt von oben weit weniger fürchteten als die von unten – und dies ungeachtet der Tatsache, dass das Land seit der Beendigung des Bürgerkrieges im Jahre 1921 ausschließlich von oben drangsaliert wurde und die so gefürchteten Massen, wenn man von einigen Ausnahmen absieht, etwa bis 1989 schwiegen.
Keine Ausbrüche des Volkszorns
Gerade dieses lange Schweigen war aber den Demokraten unheimlich. Der Literaturkritiker Igor Winogradow bezeichnete in der Endphase der Perestroika das Volk als eine rätselhafte Sphinx, von der die politische Elite kaum etwas wisse. Mit größter Sorge erfülle ihn der geistige Zustand der Gesellschaft. Der Kommunismus habe den Menschen, trotz aller Verbrechen des Regimes, eine gewisse Orientierung gegeben. Nun, nach seinem Zusammenbruch, sei ein ethisches und weltanschauliches Vakuum entstanden, das die Gesellschaft von allen Geboten und Verboten befreit habe. Die Folgen einer solchen Entwicklung könnten unabsehbar sein.
Hat sich dieses Szenario beim ersten großen Auftritt der Massen – dem Bergarbeiterstreik vom Sommer 1989 – in irgendeiner Weise bestätigt? Wohl kaum. Erstaunlich schnell organisierten die Streikenden, denen bis dahin jegliche Erfahrung eines eigenständigen Kampfes gefehlt hatte, Streikkomitees, die den Protest zu kanalisieren vermochten. Ausufernde Ausbrüche des Volkszorns, vor denen viele Vertreter der Opposition fortwährend gewarnt hatten, fanden nicht statt.
Auch das Wahlverhalten breiter Bevölkerungsschichten in der Endphase der Perestroika musste die demokratisch gesinnte Intelligenzija eher optimistisch stimmen. Bei den ersten freien Wahlen eines russischen Staatsoberhaupts in der russischen Geschichte wurde Boris Jelzin – damals die Symbolfigur der demokratischen Opposition – mit 57 Prozent der Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt.
Die Geduld der russischen Bevölkerung
Als die neue russische Führung nach dem Scheitern des kommunistischen Putschversuchs vom August 1991 und nach der Auflösung der UdSSR Ende 1991 den Weg äußerst schmerzlicher Reformen betrat (wirtschaftliche Schocktherapie, chaotisch verlaufende Privatisierung), meldeten sich in Russland erneut Stimmen zu Wort, die soziale Explosionen im Lande befürchteten. In diesem Sinne äußerte sich z. B. im Frühjahr 1992 u. a. der Wirtschaftswissenschaftler Grigori Jawlinski. Die im August 1991 entmachteten Kommunisten witterten eine neue Chance. Der gescheiterten Restauration von oben sollte eine Restauration von unten folgen. Dennoch sahen die Protestkundgebungen, die die Verfechter der untergegangenen Sowjetunion in der russischen Hauptstadt seit Anfang 1992 immer wieder organisierten, nicht sehr bedrohlich aus. Aufrufe zum gewaltsamen Sturz der „demokratischen Ausbeuter“ trafen auf keine große Resonanz.
Die beinahe sprichwörtliche Geduld der russischen Bevölkerung wurde, ungeachtet außerordentlich hoher Preise und katastrophaler Versorgungsmängel, im ersten Winter der „zweiten“ russischen Demokratie nicht erschüttert. Dazu meinte der Soziologe Juri Lewada im März 1992: „An der Langmut der Bevölkerung zerbrachen bisher sowohl die ,Roten‘ mit ihren Appellen zur Revanche als auch die ,Schwarzen‘ mit ihren fremdenfeindlichen Parolen.“
Bei einem Referendum, das die russische Führung im April 1993 – also etwa anderthalb Jahre nach dem Beginn der Schocktherapie – durchführte, wurde die Reformpolitik der Regierung zum allgemeinen Erstaunen der Beobachter immer noch von der Mehrheit der Wähler unterstützt. Trotz dieser sprichwörtlichen Langmut der Bevölkerung begann sich jedoch die politische Lage in Russland immer stärker zu destabilisieren. Dies nicht zuletzt aufgrund der immer schärfer werdenden Konflikte zwischen der demokratisch legitimierten Exekutive (Staatspräsident) und der Legislative (Kongress der Volksdeputierten), die ihre Legitimität in erster Linie aus der Breschnew’schen Verfassung schöpfte. So entstand im post-sowjetischen Russland eine Art „Doppelherrschaft“, die das Gewaltmonopol des Staates in einem immer stärkeren Ausmaß aushöhlte.
Nationalidee, Streben nach Ruhe und Stabilität
Den Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen den beiden Gewalten stellten die bewaffneten Auseinandersetzungen Anfang Oktober 1993 in der russischen Hauptstadt dar, nachdem Boris Jelzin am 21. September das russische Parlament per Dekret aufgelöst hatte. Die von vielen Fernsehstationen live übertragene Erstürmung des Parlamentssitzes hinterließ ein tiefes Trauma im Bewusstsein der Bevölkerung und trug erheblich zur Diskreditierung der demokratischen Ideen bei. Nicht zuletzt deshalb erhielt die rechtsradikale Partei von Wladimir Schirinowski bei den Wahlen zur ersten Staatsduma vom Dezember 1993 beinahe 23 Prozent der Stimmen: „Russland, du hast den Verstand verloren!“ – so kommentierte das damalige Wahlergebnis der Moskauer Literaturkritiker Jurij Karjakin.
Man darf allerdings nicht vergessen, dass diesem „Aufstand der Massen“ die innere Spaltung an der Spitze der russischen Machtpyramide vorausgegangen war. Auch die mangelnde Bereitschaft des Westens, das zu Beginn der 1990er-Jahre noch reformorientierte Russland in die europäischen Strukturen nachhaltig zu integrieren, beschleunigte die Abwendung der „schweigenden Mehrheit“ im Lande von den demokratischen Idealen.
Mit welchem Inhalt wurde nun das weltanschauliche Vakuum breiter Gesellschaftsschichten gefüllt, nachdem es kurz nacheinander zur Erosion sowohl des kommunistischen als auch des demokratischen Gesellschaftsentwurfes kam? Dies war in erster Linie die Nationalidee. Der Religionswissenschaftler Dmitrij Furman sprach zu Beginn der 1990er-Jahre von einer nationalistischen Woge, die nun die demokratische Woge der Perestroika-Zeit abgelöst habe. Aber auch das Streben nach Ruhe und Stabilität gehörte damals zu den vorrangigsten Wünschen vieler Russen. Nach einer 1996 durchgeführten Umfrage verlangten 70 Prozent der Befragten nach einer „Wiederherstellung der Ordnung um jeden Preis“.
Von all diesen Tendenzen profitierte die 2000 errichtete „gelenkte Demokratie“ Wladimir Putins. Putins KGB-Vergangenheit habe die Mehrheit der Bevölkerung keineswegs irritiert, so der bereits erwähnte Boris Dubin. Im Gegenteil, den Begriff „KGB“ habe man mit „Ordnung“ assoziiert.
In die Sackgasse
Dass diese „Ordnung“ mit einer weitgehenden Entmündigung der Gesellschaft und mit dem Verlust der in den 1990er-Jahren erkämpften Freiheiten verbunden war, wurde von der „schweigenden Mehrheit“ in Kauf genommen. Die nach den manipulierten Duma-Wahlen vom Dezember 2011 begonnenen Protestdemonstrationen in Moskau und in anderen Großstädten ließen die Bevölkerungsmehrheit ziemlich gleichgültig. Euphorisch hingegen wurde die im März 2014 erfolgte Krim-Annexion begrüßt. Die nationalistische Woge, von der Dmitrij Furman bereits zu Beginn der 1990er-Jahre gesprochen hatte, erreichte nun ihren Höhepunkt. Der in Oxford lehrende russische Politologe Wladimir Pastuchow hält es für einen Fehler der liberalen Opposition, dass sie nicht bereit sei, mit diesem nationalen Strom zu schwimmen. Sollte sie nicht imstande sein, dem offiziellen national-patriotischen Programm ein alternatives Modell der nationalen Mobilisierung entgegenzusetzen, werde sie für immer die historische Bühne verlassen.
Die von Pastuchow empfohlene Strategie ist allerdings höchst problematisch. Würden die russischen Regimekritiker seinem Aufruf folgen, so würden sie sich praktisch selbst aufgeben. Denn ihre Chance, auf die politische Bühne zurückzukehren, könnte sich nur dann ergeben, wenn die Bevölkerungsmehrheit erkennen würde, in welche Sackgasse der von oben geschürte nationalistische Kurs Russland hineinmanövrierte und wie wichtig für das Land die „Rückkehr nach Europa“ ist, für die die russischen Regimekritiker unermüdlich weiter kämpfen.

 von Leonid Luks
21.10.2014

Autor

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Leonid Luks


Der Direktor des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift „Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte“.

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